Urbanes Wohnen oder doch lieber auf’s Land?
Die dramatischen Ereignisse in diesen Tagen lassen den modernen Stadtmenschen daran zweifeln, ob das Wohnen im Urbanen tatsächlich das ist, was man sich vom Leben erträumt. Denn es wird enger, lärmiger, teurer – und obendrein (wahrscheinlich) auch unsicherer. Die Schätzung der Vereinten Nationen, dass es in 2030 weltweit 41 Megastädte geben wird und die Annahme der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung, dass in der Bundesrepublik in rund 40 Jahren etwa 83 % der Menschen in Ballungszentren leben, deuten jedenfalls darauf hin, dass es kaum angenehmer wird in einer Metropole zu leben. Zumindest nicht, solange wir Stadt nicht neu denken und die Provinz sich selbst überlassen. Ein Perspektivwechsel muss her.
Globale Instabilitäten verändern Wohnwünsche
Glaubt man der kürzlich von Ernst & Young veröffentlichten Studie “Wie will die junge Generation in der Zukunft wohnen?”, werden sich die Wohnwünsche wandeln. Von den befragten 1.650 Studenten und Berufstätigen mit einem Durchschnittsalter von 27 Jahren, bevorzugen 90 % eigene vier Wände, ob als Eigentumswohnung oder als Einfamilienhaus. Leben möchten die jungen Leute dort am liebsten traditionell mit einem Partner, wobei die Ehe oder die eheähnliche Gemeinschaft das favorisierte Lebensmodell darstellt. Kinder gehören für 76 % mit dazu. Verbunden damit ist das Bedürfnis nach Überschaubarkeit, wodurch Kleinstädte und sogar ländliche Regionen an Beliebtheit bei den Jungen gewinnen. Immerhin 29 % geben der Provinz vor Berlin, Hamburg und München den Vorzug. Die Studienverfasser führen den “Neo-Biedermeier” auf die Instabilitäten zurück, mit denen die Generation Y aufgewachsen ist, wie die Finanz- und Staatsschuldenkrise und der Terrorismus. Es scheint also nichts mit dem mobilen Lebensstil der Digital Nomads zu werden.
Vorne Bio-Supermarkt, hinten Wald
Stattdessen ist das höchste der Gefühle ein Häuschen am Stadtrand - oder “jott-we-de”, wie der Berliner sagt, also “janz weet draußen” -, mit Bio-Supermarkt vor der Haustür und hinter dem Garten beginnt der Wald. Das Ganze aber bitte nur maximal 30 Fahrminuten von der Innenstadt entfernt. Dazu passt, was die WELT herausgefunden hat: So sehnt sich insgeheim mancher zugereiste Berliner aus Westbevern-Vadrup, Düngenheim oder Naumburg wieder zurück aufs Land. Da sind die Freunde, da fühlt man sich geborgen. Das Leben ist weniger stressig. Nur gibt es dort keine Arbeit. Außerdem ist nichts los. Passt alles irgendwie nicht zusammen. Nicht nur deutsche Twens und Thirtysomethings hadern mit dieser Situation. Auch in England, Frankreich und New York sucht man nach Auswegen.
London: Beschauliches Wohnen hat seinen Preis
In London etwa hätte die Generation Y mit ihren Wohnwünschen ziemlich schlechte Karten. Denn die 14-Millionen-Einwohner-Metropole an der Themse gilt in Sachen Wohnimmobilie als das teuerste Pflaster der Welt. So werden für Luxusherbergen bis zu 75.000 Euro pro Quadratmeter bezahlt. Der Nachbar ist dann vielleicht ein russischer Oligarch, was jedoch keine Garantie für Ruhe und Beschaulichkeit sein muss. Außerdem gibt es Mietvertragsklauseln, die über die Familienplanung (!) bestimmen, wie in einer Ausgabe des Weltspiegel berichtet wurde. In Deutschland undenkbar. In den übrigen Landesteilen ist wohnen kaum günstiger. Im Durchschnitt beträgt die monatliche Miete auch abseits von London rund 2.000 Euro, ohne Heizkosten. Zwangswohngemeinschaften von Vierzigjährigen sind deshalb in Liverpool, Bristol und Manchester keine Seltenheit. In England ein bezahlbares Domizil (zumal im Grünen) zu finden, ist praktisch aussichtslos. Es sei denn, man macht eine reiche Erbschaft oder gehört zu den Royals.
Paris: Ab in den Süden
Etwas anders ist die Situation in Frankreich. Denn neben Paris haben sich seit den 1970iger Jahren die südlichen Regionen als Lebensraum entwickelt. Das liegt zum einen am konstanten Bevölkerungswachstum, das pro Jahr 0,8 % beträgt, wodurch die Abwanderung vom Land in die Stadt abgemildert wird. Zum anderen hat sich laut Berlin-Institut das Departement Haute-Garonne rund um das südfranzösische Toulouse zum High-Tech-Standort gemausert. Hier sind Airbus, das Raumfahrtkontrollzentrum CNES und Unternehmen aus der Computertechnik, Robotik und Autoelektronik vertreten. Es gibt also Alternativen zur 11-Millionen-Einwohner Metropole. Warum dann mit den Kindern an der stinkteuren Seine bleiben, wo der durchschnittliche Kaufpreis pro Quadratmeter bei rund 8.000 Euro liegt? Autoabgase und Lärm inklusive. Und jetzt kommt – man muss es leider annehmen - auch noch die Terrorgefahr hinzu. Dann doch lieber ab in den Süden, wo man im eigenen Landhaus ein ruhiges Leben führen kann. Immer mehr junge Familien wählen diesen Weg und bestellen den Umzugswagen.
New York: Cottage statt Wohnloch
Und was machen die Youngster im Big Apple? In Anbetracht von Monatsmieten um die 1.800 Dollar für ein winziges 1-Zimmer-Apartment ist die Entscheidung schnell getroffen: Auf zu neuen Ufern. Zum Mekka der Hipster ist das eine halbe Stunde nördlich von New York gelegene Hudson Valley avanciert. Noch vor wenigen Jahren eine Gegend, in der man als junger Mensch nicht einmal tot über’m Zaun hängen wollte, ist es inzwischen cool in den Dörfchen zu wohnen, bei den örtlichen Farmern einzukaufen und die Local Community zu unterstützen. Man kennt sich, man hilft sich. Es gibt Cafés, Restaurants, kleine Läden mit Kunsthandwerk, Fahrradverleiherei und exklusive Weingüter. Langsam kommt sogar eine Art Ökotourismus in Fahrt und “Hipsturbia”, wie die Medien das Idyll getauft haben, entwickelt sich zum grünen Gegenentwurf des hektischen New Yorker Großstadtlebens.
Speckgürtel werden dicker
Hierzulande ist der Rückzug in die Provinz für junge Leute (noch) keine Option. Im Gegenteil. Während in Dörfern die Häuser verfallen, fehlt es in Großstädten an Wohnraum. Profitieren werden von den Wohnwünschen der Generation Y in Zukunft eher die Randlagen. In der Münchener Peripherie sei der Wandel bereits spürbar, so der Immobilienvermittler Eigenwert. Nach seinen Erhebungen wurden lediglich 20 % der 143 im vergangenen Jahr untersuchten Neubauprojekte im innerstädtischen Bereich der Bayernmetropole erstellt. Die Mehrzahl verteilt sich auf bislang eher unattraktive Wohnlagen wie Solln, Trudering, Riem oder Pasing. Allerdings unterscheiden sich die Quadratmeterpreise dort nicht sonderlich von denen in der Innenstadt. Auch sie liegen im Schnitt bei rund 5.000 bis 7.000 Euro. Trotzdem wäre die Nachfrage riesig. Und so richtig auf dem Land wohnt man nicht, denn die Infrastruktur wächst mit der Verdichtung. Eine ähnliche Situation zeichnet sich im Umland von Hamburg ab. Im Landkreis Harburg sind die Grundstücksgeschäfte in 2011 laut Gutachterausschuss um rund 28 % angestiegen. Wer südlich der Elbe ein freistehendes, cirka 7 Jahre altes Einfamilienhaus erwerben möchte, muss fast 300.000 Euro mitbringen.
Unser Dorf soll lebendiger werden
Wem das alles nicht weit genug „draußen“ ist, um den Wohntraum von Beschaulichkeit zu verwirklichen, der sollte den Landeswettbewerb “Unser Dorf hat Zukunft” im Auge behalten, den das Landwirtschaftsministerium Niedersachsen veranstaltet. Gekürt wird, wer mit Kreativität und Ideenreichtum die Zukunft des Wohn- und Arbeitsumfeldes gestaltet. Die 500-Seelen-Gemeinden Böddenstedt und Dudensen sowie das knapp 1.700 Einwohner zählende Vrees sind die diesjährigen Sieger. Namen, die man sich merken sollte.
Quellen:
- Text: Dagmar Hotze, freie Journalistin